Der Paketbote

 

 

 

Ronny warf einen Blick zur Uhr. Er war ein bisschen später dran als sonst. Aber dann war in der Weihnachtszeit auch immer mehr zu tun als in anderen Wochen des Jahres. Die Leute kauften ihre Geschenke nicht mehr vor Ort in den Geschäften, sondern im Internet, und er brachte ihnen dann die Waren. Ronny arbeitete als Paketbote. Zugegeben. Der Job war nicht besonders gut bezahlt. Aber hier auf den Dörfern am Rande des Harzes gab es nicht viel Auswahl was Arbeit anging. Schon gar nicht, wenn man sich mit der Schule schwergetan hatte. Ronny fand, dass es durchaus auch Vorteile hatte, wenn einem der Chef nicht ständig über die Schulter schaute. Er freute sich schon auf die kleine Zigarettenpause, die er einlegen würde, wenn er hier im Dorf fertig war. Der Logistikcomputer hatte ihm seinen heutigen Streckenplan ausgerechnet. Doch Ronny wusste, dass er einige Minuten einsparen konnte, wenn er statt zur Hauptstraße zu fahren, von hier die Schleichwege am Sportplatz vorbei zum Wald nehmen würde. Dann kam er auch zum nächsten Dorf und konnte trotzdem kurz mal durchschnaufen.

 

Auf sein Klingeln antwortete niemand. Aber an der Haustür hing eine Abstellgenehmigung, die mit Tesa angeklebt war. Er nahm sie ab und las kurz die Anweisung. Aha. Das Päckchen bitte unter dem Carport abstellen.

 

„Wird gemacht, Kumpel“, dachte er und schob den großen Karton in die Ecke an die Hauswand, so dass nichts nass werden konnte. Als er zu seinem Transporter zurückkehrte, sah er eine alte Frau suchend herumirren. Sie hatte schütteres graues Haar, magere Schultern und nur eine dünne rosa Strickjacke an, die bei diesen frostigen Temperaturen kaum warmhalten konnte. Für einen Moment überlegte Ronny, ob er nicht rasch ins Auto springen und wegfahren sollte. Aber das brachte er dann doch nicht übers Herz.

 

„Kann ich Ihnen helfen?“

 

Die alte Frau wandte sich überrascht um, hatte ihn offenbar noch gar nicht bemerkt. Ein hoffnungsvolles Lächeln breitete sich auf ihrem faltigen Gesicht aus.

 

„Ja … vielleicht … ich … ich habe mich wohl verlaufen“, gestand die Frau verlegen ein. Dann fügte sie noch rasch an:

 

„Mein Gedächtnis … ja … das lässt mich immer mal im Stich, müssen Sie wissen.“

 

„Wo wollen Sie denn hin?“

 

Eigentlich bedauerte Ronny seinen spontanen Entschluss schon, dass er sie angesprochen hatte. Das roch nach einer längeren Geschichte.

 

„Ich will zum Ilsetal 23. Aber ich kann mich einfach nicht mehr daran erinnern, wie ich da hinkomme.“

 

„Ilsetal 23? Das ist nicht weit. Springen Sie ins Auto. Ich bringe Sie rasch hin.“

 

Die Augen der alten Frau leuchteten auf.

 

„Oh, wirklich? Das ist aber reizend von Ihnen. Vielen Dank!“

 

Der Paketbote
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