Der Schlaganfall


Der Wind fegte bunte Blätter in die Luft und ließ sie am Fenster vorbei fliegen. Es hätte fröhlich gewirkt, wäre da nicht der Regen gewesen, der mit den Böen gegen das Fenster platschte. Kein schöner Tag, um draußen zu sein.

Die alte Frau lag in einem Krankenhausbett. So schnell würde sie nicht hinausgehen können. Dennoch war der Blick ihrer Augen wehmütig nach draußen gerichtet. Sie sah nicht einmal auf, als die Tür sich öffnete und einige Menschen das Krankenzimmer betraten.

„Tante Betty? Wie geht es dir denn?“

Die alte Frau warf einen verwunderten Blick auf die junge Frau, das Kind und den Mann. Offenbar konnte sie sich nicht erinnern, wer diese Menschen waren und blickte rasch wieder aus dem Fenster.

„Tante Betty? Erkennst du mich nicht? Ich bin Corinna, deine Großnichte. Die Tochter von Barbara.“

Ratlos sah die junge Frau ihren Mann an. Der kleine Junge an ihrer Hand zog unbehaglich zur Ausgangstür.

„Können wir nicht gehen, Mama?“

Doch die Mutter ignorierte ihn und startete einen neuen Versuch der Kommunikation.

„Schau mal, Tante Betty! Wir haben dir Blumen mitgebracht. Ich stelle sie dir mal in eine Vase, ja?“ Automatisch hatte die junge Frau lauter gesprochen, als wäre die Tante schwerhörig. Da Corinna keine Vase im Zimmer entdecken konnte, ging sie zur Tür, um im Schwesternzimmer danach zu fragen. Rasch folgten ihr Mann und ihr Sohn.

„Ich hole nur kurz eine Vase. Gleich sind wir wieder bei dir.“

Doch auch, als sie kurze Zeit später mit den Blumen und einer Vase zurückkehrten, war die alte Frau nicht gesprächiger. Nach weiteren 10 Minuten der einseitigen Versuche, ein Gespräch in Gang zu bringen, verließ die kleine Familie das Krankenzimmer wieder. Auf dem Gang trafen sie die behandelnde Ärztin und hielten sie an.

„Was ist denn mit Elisabeth Reinhard? Wir wollten sie gerade besuchen, aber sie hat gar nicht mit uns geredet.“

„Sind Sie Verwandte von Frau Reinhard?“

Die Ärztin war im mittleren Alter, eine zierliche Person, doch nicht ohne Selbstbewusstsein.

„Ja. Ich bin die Großnichte. Wir haben heute erst davon erfahren, dass Tante Betty hier im Krankenhaus ist.“

„Ach, kommen Sie doch mit in mein Büro. Dann können wir in Ruhe sprechen. Wir hatten schon eine Weile versucht, Verwandte von Frau Reinhard zu finden. Aber sie scheint alleine zu leben?“

Corinna nickte.

„Ja. Tante Betty war nie verheiratet. Sie hat mit ihrer Schwester zusammen gelebt. Aber die ist vor zwei Jahren gestorben. Meine Mutter hat vor ein paar Tagen versucht, Tante Betty telefonisch zu erreichen und hat sich Sorgen gemacht, als niemand dran ging. Eine Nachbarin hat uns dann erzählt, dass Tante Betty ins Krankenhaus gekommen ist. Was hat sie denn eigentlich?“

„Frau Reinhard hatte einen Schlaganfall.“

„Oh je! Hat sie uns deshalb nicht erkannt?“

Die Ärztin überlegte kurz. Dann wählte sie ihre Worte mit Bedacht.

„Schon möglich. Jeder Schlaganfall ist anders. Es kommt darauf an, welcher Bereich des Gehirns in Mitleidenschaft gezogen wurde. Bei manchen ist das Bewegungszentrum gestört. Bei anderen die Sprache. Und bei wieder anderen die Erinnerung. Es ist sehr unterschiedlich. Wir haben bei Frau Reinhard bislang nur wenige Probleme festgestellt. Sie kann sich ganz normal bewegen und reagiert wenn sie angesprochen wird. Allerdings hat sie bislang nicht viel gesprochen und was sie gesagt hat, machte für uns keinen Sinn. Es klang seltsam, fast wie eine andere Sprache. Ist Frau Reinhard Deutsche?“

Corinna blickte die Ärztin verdutzt an.

„Äh ... ja.“

„Hat sie denn mal längere Zeit in einem anderen Land gelebt?“

Hilflos hob die junge Frau die Schultern.

„Das weiß ich gar nicht. Ich glaube nicht. Ich muss mal meine Mutter fragen. So eng ist der Kontakt dann auch nicht.“

„Hm. Na gut. Es wäre hilfreich, wenn Sie da mal etwas recherchieren könnten.“

 

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