Die Gabe

Ich weiß nicht genau, wann es angefangen hat. Vielleicht besaß ich die Gabe schon immer. Bemerkt habe ich es allerdings zum ersten Mal vor drei Jahren. Ich war nach der Arbeit auf dem Weg nach Hause. Der Verkehr auf der Autobahn war nicht besonders dicht, als an einer Auffahrt ein Laster auf die rechte Spur auffahren wollte. Hinter ihm hing ein dicker BMW fast an der Stoßstange. Dem ging es offenbar nicht schnell genug, so dass er kurzerhand, ohne zu blinken oder gar in den Rückspiegel zu schauen, von der Auffahrt über die rechte Fahrspur zur linken wechselte und fast in mich hinein krachte. Es fehlte wirklich nicht viel und er hätte mein kleines Auto seitlich touchiert. Wütend starrte ich dem rücksichtslosen Banausen hinterher und fluchte halblaut:

„Blödmann! Du denkst wohl auch, du hast die Vorfahrt mit dem dicken Auto mitgekauft! Fahr dich doch tot, Alter!“

Mein Ärger verflog bald und ich drehte das Radio lauter, als ein Song lief, den ich mochte. Sicher hätte ich den Vorfall schnell vergessen. Doch als ich beinahe meine Ausfahrt erreicht hatte, stockte plötzlich der Verkehr und kam fast ganz zum Stehen. Leicht verdrossen, weil ich aufgehalten wurde, und auch erleichtert, weil ich es ja nicht mehr weit hatte, rollte ich mit den anderen Wagen mit. Vor uns war ein Unfall passiert. Die Unfallstelle war noch nicht richtig abgesichert, ein Krankenwagen oder die Polizei noch nicht da. Ein hoffungslos verbeulter, dunkler BMW lag kopfüber auf der Böschung, die am Autobahnrand in den Wald hinaufführte. Ein zweiter, kleiner Wagen stand mit verbeultem Heck, aber ansonsten unbeschädigt mit Warnblicklicht auf dem Standstreifen. Ein älterer Mann telefonierte aufgeregt und ein anderer, jüngerer Mann war die Böschung hinaufgeklettert und sah nach dem zermatschten BMW.

Kein Zweifel. Es war derselbe Wagen, dessen Fahrer mich so rücksichtslos geschnitten hatte. Wirkliches Bedauern konnte ich nicht in mir spüren. Eher leise Verwunderung und auch etwas wie Genugtuung.

Am nächsten Tag schrieben sie in der Zeitung, dass der Fahrer noch am Unfallort seinen schweren Verletzungen erlegen sei.

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