Ein spätes Frühjahr

Er hatte sie noch nie gesehen. Doch sie fiel ihm gleich auf als sie hereinkam. Eine blonde Frau mittleren Alters mit einem liebenswerten Lächeln und freundlichen blauen Augen. Sie bestellte sich einen Kaffee mit Milch und setzte sich dann zwischen die anderen Gäste, fast ausschließlich Frauen wie sie und doch anders. Die Frauen hier waren Städterinnen durch und durch. Modisch gestylt, sorgsam frisiert und nach außen hin gaben sie sich wohlhabender, als sie es vermutlich wirklich waren. Eine leise Arroganz ging von diesen Frauen aus. Sie waren selbstbewusst und emanzipiert. Die blonde Frau hingegen hatte nichts Arrogantes an sich. Sie wirkte eher eine Spur schüchtern, als wäre sie sich ihrer selbst sehr bewusst. Gedankenvoll blickte sie hinaus auf die Straße und blätterte abgelenkt in einer der Zeitungen, die für die Gäste auslagen. Es passte zu ihr, dass sie sich die Tageszeitung ausgesucht hatte und nicht die bunten Hochglanzmagazine über Mode und Lifestyle, die es ebenfalls gab. Von seinem Platz hinter dem Tresen konnte er beobachten, wie sie die Seite mit dem Wetter aufschlug und die Wetterkarte studierte. Er schmunzelte unwillkürlich. Wer tat das nicht in diesem Frühjahr? Es war schon viel zu lange kalt. Der Winter wollte dieses Jahr so überhaupt nicht weichen. Kein Wunder, wenn man da sehnsüchtig die Wetterkarte nach ersten Anzeichen des Frühlings absuchte.

Eine Weile war es ganz ruhig im Café. Die Gäste unterhielten sich leise und so räumte der Wirt einige benutzte Tassen fort. Die blonde Frau war die einzige, die alleine saß. Ihr Blick glitt immer wieder hinaus auf die Straße, so als wartete sie auf jemanden. Dann wurde es unvermittelt lebhaft. Einige der Gäste erhoben sich und wollten gehen, während gleichzeitig neue Kundschaft in den kleinen Raum drängte. So bekam der Wirt zunächst nicht mit, dass auch die blonde Frau nicht mehr alleine war. Ein noch recht jugendlich wirkender Mann war zu ihr getreten und hatte sie mit einem flüchtigen Kuss begrüßt. Irritiert beobachtete der Wirt, dass der junge Mann der Blonden galant in den Mantel half, so als wäre er ihr Freund, obwohl er vermutlich einige Jahre jünger als sie war. Doch das Strahlen in ihren Augen galt sicher nicht einem flüchtigen Bekannten und für ihren Sohn war der junge Mann doch zu alt.

Irritiert und eine Spur enttäuscht sah der Wirt der Blonden und ihrem Begleiter nach, als sie miteinander lachend das Café verließen. Unwillkürlich fragte er sich, was die sympathische Frau nur an dem Jüngeren fand. Die Frage beschäftigte den Wirt noch eine ganze Weile, aber er kam zu keiner Antwort. Vielleicht war es das hübsche Gesicht des jungen Mannes oder seine unbekümmerte Art. War er nicht früher selbst so gewesen? Der Wirt fühlte sich plötzlich alt und ausgebrannt. An diesem Tag schloss er das Café früher ab als sonst.

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