Finnlandreise


Dicke Regentropfen platschten gegen die großen Fensterscheiben, die einen Blick hinaus auf das Flugfeld ermöglichten. Ich fühlte mich unwach und lustlos. Dennoch wäre ich lieber ganz normal zur Arbeit gefahren, als jetzt hier auf den Flug nach Helsinki zu warten. Die Aussicht auf zwei Tage Konferenzteilnahme ließ meine sonstige tägliche Arbeitsroutine plötzlich überraschend verlockend erscheinen. Schlafen im eigenen Bett, pünktlich um vier Uhr Feierabend machen. Ich seufzte und warf einen ungeduldigen Blick zur Anzeigetafel. Doch mein Flug war noch nicht aufgerufen worden. Um mich her saßen andere Fluggäste und vertrieben sich auf unterschiedlichste Art die Zeit. Verstohlen beobachtete ich sie und überlegte mir, wer von ihnen wohl aus Finnland stammte und nach Hause flog. Der stämmige, blonde Mann mir gegenüber vielleicht. Doch dann zog er ein Handy aus der Tasche und telefonierte akzentfrei in Deutsch.

Eigentlich sah niemand typisch finnisch aus, fand ich. Die meisten waren wohl Geschäftsreisende wie ich. Für die Sommerurlauber war es jetzt im Mai noch zu früh. Von Sommer war derzeit ohnehin noch nichts zu spüren. Ich hatte mir vorsichtshalber den dicken Wintermantel angezogen. Ein ironisches Lächeln huschte über mein Gesicht. Vorurteile! In Finnland ist es immer dunkel und lausig kalt. Dabei sollte ich es doch besser wissen. Als Kind war ich ein paar Mal mit den Eltern dort gewesen und hatte die Ferien dort geliebt. Erstaunlich, wie man manche Dinge einfach vergisst und andere völlig aus den Gedanken verdrängt. Ich hatte lange nicht mehr an diese Zeit gedacht. Selbst als mir mein Chef vor einigen Tagen erklärte, dass ich in Vertretung für einen Kollegen zur Konferenz nach Helsinki müsse, hatten meine Gedanken nur um Flugdaten, Hotelbuchungen und Tagungszeitpläne gekreist. Die Sommer meiner Kindheit erschienen so fern, dass sie mir vorkamen wie Erzählungen, die ich irgendwann einmal gelesen hatte. War es wirklich dasselbe Land gewesen? Ich überlegte und rechnete rasch im Kopf nach. 31 Jahre lag meine letzte Reise nach Finnland zurück. Damals war ich 13 gewesen und wir waren nicht geflogen, sondern mit dem Schiff gefahren. Alleine die Reise dauerte damals fast drei Tage. Von Fehmarn nach Seeland in Dänemark. Dann hinüber nach Schweden und von Stockholm mit der Fähre nach Turku. „Vogelfluglinie“ hieß das damals. Unwillkürlich musste ich lächeln. Ich hatte das Schifffahren geliebt. Für meine Schwester Lisbeth und mich bedeutete es das große Abenteuer. Ich fühlte mich eins mit den Auswanderern in meinen heißgeliebten Wildwestromanen und sah mich gleichzeitig als Entdeckerin, die wie Sven Hedin unbekannte Welten bereiste. Je weiter wir mit dem Auto vorankamen, umso fremdartiger wurden Land und Leute. Während Dänemark sich für mein kindliches Auge noch nicht sehr von Norddeutschland unterschied, bot Schweden schon allerhand Neues und Spannendes. Die Fähre nach Turku brachte uns dann vollends in die Fremde. Ich erinnerte mich daran, dass auf der Fähre immer Männer in schlechtsitzenden, hellen Sommeranzügen in den Gängen herumhingen oder in der Cafeteria auf den Stühlen schliefen. Sie alle hatten nicht viel Gepäck dabei. Nur die Plastiktüten mit dem Aufdruck der Reederei, darin die alkoholischen Einkäufe aus dem Duty-Free-Shop an Bord. Mir war damals nicht klar, dass viele von ihnen betrunken waren. Doch meine Mutter ignorierte diese Männer hochmütig und so taten Lisbeth und ich es ihr einfach nach. Glücklicherweise waren diese Schnapsfahrer harmlos. Uns Kindern taten sie nichts, wenn wir beim Spielen an ihnen vorbeiliefen. Sie gehörten für mich einfach zu dieser Fähre nach Finnland dazu, wie das große Abendbüffet. Auch wenn wir nicht gerade reich waren, ließ es sich mein Vater nie nehmen, uns alle am Abend einzuladen. Und welche Köstlichkeiten es da gab! Sicher auch Kaviar oder andere Delikatessen. Doch wir Kinder liebten vor allem das komische dünne Knäcke aus Schweden und das dunkle Brot mit dem Loch drin. Dazu eingelegten Fisch oder Schinken und rote Grütze als Nachtisch. Mehr brauchten wir gar nicht. Ich schmunzelte unwillkürlich bei dem Gedanken daran und fragte mich, ob es das dunkle Brot mit dem Loch in der Mitte immer noch gab. Ich würde danach Ausschau halten, wenn ich denn in Helsinki war.

Eine schnarrende Lautsprecherstimme rief meinen Flug auf und ich erhob mich erwartungsvoll, um mich in die Reihe der anderen Reisenden einzureihen, die alle ebenfalls nach Finnland wollten.

Ich fliege nicht gerne. Daher war ich froh, als wir den Start gut überstanden hatten und das Flugzeug eine stabile Reisehöhe erreichte. Als das Zeichen gegeben wurde, dass wir die Sicherheitsgurte ablegen konnten, atmete ich erleichtert durch. Eine Stewardess kam herum und bot Getränke und kleine Snacks an. Ein richtiges Essen gab es auf dem Flug nicht. Man hätte sich in der Lounge versorgen können, wenn man gewollt hätte. Ich ließ mir einen Orangensaft und eine Zeitung geben und versuchte zu ignorieren, dass es geräuschvoll, eng und unbequem um mich herum war. Doch meine Gedanken schweiften von der Zeitung ab. Ich sah mich wieder als Kind in Finnland und erinnerte mich an den letzten Sommer, den ich dort verbracht hatte. Er ist mir von allen Urlauben dort am besten in Erinnerung geblieben.

 

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